Christiane Hoffrath: Restitution von „NS-Raubgut“ in Bibliotheken
27614643
1. Akademie Verlag GmbH
Heiligenkult und Adelsherrschaft im Spiegel merowingischer Hagiographie
Author(s): Friedrich Prinz
Source: Historische Zeitschrift, Bd. 204, H. 3 (Jun., 1967), pp. 529-544
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2. HEILIGENKULT UND ADELSHERRSCHAFT
IM SPIEGEL MEROWINGISCHER HAGIOGRAPHIE
VON
FRIEDRICH PRINZ
SEIT man aufgeh?rt hat, hagiographische Texte lediglich nach
ihrem Gehalt an historischen Tatsachen durchzumustern, und seit
?bseinigerma?en zuverl?ssig m?glich ist, den zeitlichen Abstand
zwischen dem Helden einer Vita und seinem Biographen zu bestim
men, ist die Hagiographie in einem neuen Sinne Geschichtsquelle
?e worden, n?mlich Zeugnis f?r Geist und Gesellschaft einer Zeit,
in der wesentliche Urspr?nge abendl?ndischer Geschichte liegen.
Van der Essen, Besse, Babut, Delehaye, Levillain, Marignan, Gros
de Moreau, Gougaud, Riche haben im franz?
jean, Aigrain, Griffe,
der Erkenntnis vom Wert der Hagiographie
sischen Sprachraum
Bahn gebrochen1), in Deutschland schufen Heinrich G?nther und
C. A. Bernoulli mit ihren Studien zur Legende Grundlagen einer
psychologischen Neuwertung der Hagiographie2), die dann von
Katharina Weber, Georg Schreiber, Wilhelm Levison, Bernhard
H. L?we u. a. zur Erkenntnis fr?hmittelalterlicher Kultur
JK?tting,
lind Gesellschaft ausgewertet wurde3). Die sozialgeschichtlichen
Aspekte der Vitenliteratur sind neuerdings umfassend von dem
sur les vitae
1) L. van der Essen, ?tude critique et litt?raire des saints
de l'ancienne ? Les moines de
m?rovingiens Belgique (1907). J. M. Besse,
l'ancienne in: Archives de la France II ?
France, monastique (1906).
Les ? R. Aigrain,
H. Delehaye, l?gendes hagiographiques (41955). L'hagio
Ses sources, ses m?thodes, son histoire ? A. Marignan,
graphie. (1953).
?tudes sur la civilisation fran?aise II, in: Le culte de saints sous les M?ro
? P. Grosjean, Note in: Anal. Boll.
vingiens (1899). d'hagiographie celtique,
LXIII ? E. Griffe, La Gaule chr?tienne ? l'?poque 2 Bde.
(1945fi.). romaine,
? L. Gougaud, in Celtic Lands ? E. de
(1947/57). Christianity (1932).
Moreau, Saint Amand, ap?tre de la Belgique et du Nord de la France (1927).
? Die christliche des
2)H.G?nther, Legendenstudien (1906). Ders., Legende
Abendlandes ? C. A. Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger
(1910). (1900).
3) K. Weber, Kulturgeschichtliche Probleme der Merowingerzeit im Spiegel
in: STMBO 48 ? G. Schreiber, Irland im
fr?hma. Heiligenleben, (1930).
deutschen und abendl?ndischen Sakralraum (1956). ?W. Levison, Aus rheini
scher und fr?nkischer Fr?hzeit. Ausgew?hlte Aufs?tze (1948) bes. Teil a)
JHagiographisch.es. ?B. K?tting, Peregrinatio religiosa (1950). ?H. L?we,
Arbeo von Freising, Eine Studie z. Religiosit?t und Bildung im 8. Jh., in:
Rh. Vjbll. 15/16 (1950/51), S. 87?120.
Historische Zeitschrift 204. Band 35
3. 530 Friedrich Prinz
Prager Medi?visten F. Graus und f?r die fr?he bayerische Hagio
graphie von K. Bosl in einer exemplarischen Studie untersucht
worden4). Eine besonders in der deutschen Medi?vistik entwickelte
Form der Auswertung von Hagiographie und Kultgeschichte findet
sich innerhalb der landeskundlichen Forschung, und zwar als Hilfs
mittel der Kulturraumforschung und der Erhellung von Kultur
str?mungen in quellenarmer Zeit. Erinnert sei hier an die Arbeiten
von Eugen Ewig, Heinrich B?ttner, Marcel Beck, Helmut
Weigel,
W. Deinhardt, Walter Zimmermann und an die zusammen
gro?en
fassenden kultgeographischen Studien von Matthias Zender im Zu
sammenhang mit den am Atlas der deutschen
Auswertungsarbeiten
Volkskunde5).
Kann man der Hagiographie ihren Erkenntniswert f?r das
Leben und Meinen breiter Volksschichten nicht absprechen, so
ist]
er m. E. noch viel gr??er und einleuchtender f?r die Erkenntnis der!
fr?hmittelalterlichen Adelsgesellschaft.
Voraussetzung f?r Erkenntnisse ?ber die merowingische Adels
gesellschaft ist nat?rlich die Begrenzung der Quellen auf wirklich
merowingische, wenn auch nicht zu ?bersehen ist, da? ?berdies aus
sp?teren, karolingischen ?berarbeitungen, wie etwa im Falle der
Eligiusvita, bei vorsichtiger Pr?fung Merowingisches ausgesondert
werden kann6). Der von Bruno Krusch drastisch reduzierte Bestand
echt merowingischer Viten hat sich ?brigens in den Jahrzehnten der
Auseinandersetzung mit der Krusch-Levison-Edition betr?chtlich
vermehrt, dies gilt etwa f?r die Viten der Jurav?ter, f?r^die Vita
Rusticulae, die Vita Amandi, u.a.m.7).
Will man die Aussagekraft einer Vita richtig einsch?tzen, dann
mu? man bekanntlich zuerst jene Elemente ausscheiden, die zur
4) F. Graus, Herrscher u. Heiliger im Reich der Mero winger, Studien z.
der Merowingerzeit ? K. '?
Hagiographie (
Prag 1965). Bosl, Der,, Adelsheilige'
Idealtypus und Wirklichkeit, Gesellschaft und Kultur im merowingischen
des 7. u. 8. Jh.s, in: Speculum ? Festschrift
Bayern Historiale Joh. Sp?rl
(1965), S. 167?187.
5)M. Zender, R?ume u. Schichten ma. Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung
f. d. Volkskde. ? Atlas d. deutschen
(1959). Ders., Volkskde., Erl?uterungen
z. 1. Lieferung Karte NF 1?12, 1959, daselbst auch S. 213 ff. die weitere Lit.
6) SS rer. Merov. IV, S. 634?761; dazu Wattenbach-Levison, Geschichts
quellen I (1952), S. 127f.
7) P. Riche, Note d'hagiographie m?rovingienne: La Vita Rusticulae, in:
Anal. Boll. LXXII ?
(1954), S. 369ff. B. W. Hoogterp, Les Vies des P?res
de Jura, in: Bull, du Cange ? F. Prinz,
(1935), S. 129?251. Fr?hes M?nch
tum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden
und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4.?8. 1965
Jh.),
(passim).
4. Heiligenkult und Adelsherrschaft 531
hagiographischen Tradition und ihrem Genre geh?ren, Elemente,
die aber darum noch nicht wertlos sind, sondern immer noch durch
die Art ihrer Verwendung mittelbare Aufschl?sse von Wert er
Im wird man
lauben8). allgemeinen sagen k?nnen, je st?rker eine
Vita vom Rahmen abweicht, um so
vorgegebenen hagiographischen
glaubw?rdiger sind ihre individuellen Momente, es sei denn, diese
individuellen Momente sind ironisch ?bertrieben, wie in der Vita
S. Goari oder der Gangulfvita, was aber nur bei sp?teren Viten der
Fall ist. Der Vergleich mit der zeitlich vorausgehenden Hagiogra
phie schafft also die M?glichkeit, Neues als solches zu erkennen,
ebenso wie der Vergleich mit nachfolgenden hagiographischen
zu vermag, was an einst individuellen einer
Epochen zeigen Z?gen
Vita infolge ihrer vorbildhaften Wirkung nun seinerseits zum tra
dierbaren ist, ein der m. E. mehr
Topos geworden Gesichtspunkt,
Beachtung als bisher verdient, da er zu der auch f?r unser Thema
zentralen Frage hinleitet, warum ein bestimmter, indi
urspr?nglich
vidueller Zug in einer ganz bestimmten Epoche zum hagiographi
schen Gemeingut werden konnte.
Schlie?lich und endlich wird man bei der historischen Aus
wertung einer Vita immer nach den Beweggr?nden fragen, die zur
Niederschrift einer Vita f?hrten. Die simple Antwort, da? Ver
ehrung und Liebe zu einem Heiligen dem Hagiographen gleichsam
die Feder in die Hand dr?cken, gen?gt nicht. Oft sind es sehr kon
krete Ziele der Propagierung eines Kultes, und diese Propagierung
wird dann auch mit Eifer und Geschick vorangetrieben, wie bereits
am Beginn abendl?ndischer Hagiographie in den Briefen und Dia
logen des Sulpitius Severus zu seiner Martinsvita sehr klar zu er
'
kennen ist. Tours entwickelt sogar eine Art ?kanonischer" Sammel
handschrift mit Texten, die sich um die Schriften des Sulpitius
Severus es diese Handschrift, den sog. Mar
gruppieren, produziert
tinellus, in zahlreichen Exemplaren und tr?gt somit auf literari
schem Wege zur Verbreitung des Martinskultes bei9). Eine Vita kann
ebenso der und eines neuen Patro
Durchsetzung Popularisierung
ziniums dienen. Es ist beispielsweise sicher kein Zufall, da? 769 in
Freising zum ersten Male das Corbinianspatrozinium bezeugt ist,
nachdem Arbeo um diese Zeit seine Vita Corbiniani geschrieben
hatte10). Denselben Vorgang: Patroziniumswechsel aufgrund der
Propagierung eines Heiligen durch eine neue Vita finden wir etwa
8) Besonders scharf, aber auch ?bertrieben und verallgemeinernd heraus
gearbeitet hat die Bedeutung von Topoi E. R. Curtius, Europ. Lit. u. latein.
Ma. (1948).
9) E. K. Rand, Studies in the Script of Tours, 2 Bde., 1929/34.
10) Th. Bitterauf, Freisinger Traditionen I, Nr. 31, S. 59 f.
35?
5. 532 Friedrich Prinz
in Rouen in der Grabkirche des hl. Audoen, in Metz im Grabkloster
des hl. Arnulf, inW?rzburg im Anschlu? an die Vita Kiliani, wie
Dienemann und Biglmair gezeigt haben11).
Wenden wir uns nach diesen methodischen Vorbemerkungen
?ber Zweck und Wert hagiographischer Literatur unserem Thema
im engeren Sinne zu und fragen wir, ob und in welcher Weise das
Bild der merowingischen Adelsgesellschaft in den zeitgen?ssischen
Viten auftaucht. Das ungew?hnliche Anwachsen der Vitenliteratur
im Frankenreich w?hrend des 7. Jh.s (im Vergleich zu anderen
L?ndern Europas) zeigt bereits, da? dieses f?r die abendl?ndische
Entwicklung so entscheidende merowingische Jahrhundert in der
Heiligen vita einen zeitgem??en geistigen Ausdruck fand12), w?h
rend die Historiographie, die mit antiker Substanz gespeist bei Gre
gor von Tours im 6. Jh. einen letzten Aufschwung erlebt hatte, im
7. Jh. in der sogenannten Fredegarchronik ausl?uft und einen quali
tativen Tiefpunkt erlebt, einen Tiefpunkt, den man allerdings viel
zu sehr f?r alle geistigen ?u?erungen in diesem Saeculum verall
gemeinert hat13). Die Hagiographie jedoch erlebte einen unbezwei
felbaren wir uns daher, ob und in welcher
Aufschwung. Fragen
Weise sich die Vitenliteratur des 7. und auch des 8. Jh.s von der
vorausgegangenen Hagiographie unterscheidet. Bereits Katharina
Weber war es aufgefallen, da? sich die altgallische Hagiographie
des 6. Jh.s, besonders in den Vitae Patrum Gregors von Tours, in
denen das Leben der Klausner und Eremiten Aquitaniens geschil
dert wird, nicht genug tun konnte in der Schilderung der ?rmlich
keit der Behausungen, der Primitivit?t der Kleider und Ger?te, der
Welt- und Kulturverachtung. Dies ?nderte sich in den fr?nkisch
merowingischen Heiligenleben des 7. und 8. Jh.s grundlegend. Die
Heiligen erbauen jetzt gro?e Kl?ster mit prachtvollen Kirchen, f?r
deren Unterhalt aus Adels- und K?nigsgut umfangreiche Grund
herrschaften eingerichtet werden14). F?r diesen Wandel der hagio
graphischen Umwelt mu? man in erster Linie die Tatsache verant
wortlich machen, da? die merowingischen Heiligen fast durchwegs
einer anderen Gesellschaftsschicht entstammen als die bei Gregor
geschilderten Klausner und Eremiten ; sie sind Angeh?rige einer
dem K?nigtum eng verbundenen Adelsschicht im K?nigsdienst,
deren Lebensanschauung und Weltbild sich in den Viten der Zeit
u) F. Prinz, Zur geistigen Kultur d. M?nchtums im sp?tantiken Gallien u.
im Merowingerreich, in: ZBLG 26 (1963), S. 29?102, bes. S. 89ff.
12) E. Dekker-Ae. Gaar, Clavis Patrum Latinorum (1951).
13)Wattenbach-Levison, Geschichtsquellen I, S. 109ff.
14) K. Weber, Kulturgeschichtliche Probleme, S. 379.
6. Heiligenkult und Adelsherrschaft 533
unverkennbar und inne
niedergeschlagen hat15). Bildungsniveau
ren Zusammenhang dieser einflu?reichen Adelsgruppe k?nnen wir
auch au?erhalb der Hagiographie fassen und damit
gl?cklicherweise
die Aussagen der letzteren kontrollieren, etwa durch die erhaltene
des B. Desiderius von Cahors, die u. a. Briefe
Briefsammlung
von von des B. Constantius von
Audoens Rouen, Eligius' Noyon,
u. a. enth?lt16).
Albi, des Hausmeiers Grimoald, K?nig Sigiberts III.
Diese Briefsammlung zeigt, wie k?rzlich P. Riche dargelegt hat, ein
erstaunliches Ma? von antik-historischer Schulung der Briefsteller,
womit die h?ufigen Angaben der Viten dieser M?nner, sie h?tten
eine literarische Bildung genossen, nicht l?nger als ein Topos bei
seite werden k?nnen17).
geschoben
Im Zusammenhang damit steht eine weitere Beobachtung,
welche die Merowingerviten von der sp?tantiken Hagiographie
unterscheidet. Es ist die Beobachtung, die der Prager Medi?vist
Frantisek Graus, von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend,
andeutet, er sagt, da? die Einstellung
wenn der merowingischen
Hagiographen zur weltlichen Macht im Grunde genommen positiv
sei, selbst wenn im einzelnen ein schlechter K?nig oder Adeliger
vorkommen mag18). Diese Feststellung l??t sich nun im einzelnen
und erweitern. Erstens durch den Nachweis, da? poli
begr?nden
tischen und famili?ren Beziehungen des adeligen Heiligen zum
und zu an der vormerowingischen
K?nig seinesgleichen, gemessen
ein unverh?ltnism??ig breiter Platz einger?umt wird.
Hagiographie,
Dies geht sogar so weit, da? nicht nur der politische Werdegang des
Heiligen geschildert wird, sondern auch der seiner Br?der, wie etwa
in der Vita Desiderii19) oder in der Vita des Abtes Germanus von
Fr?hes S. 489 ff.
15) F. Prinz, M?nchtum,
III, S. 191?214, dazu F. Prinz, Fr?hes M?nchtum, S. 504f.
16) MG Epist.
L'instruction des la?cs en Gaule m?rovingienne au VIIe si?cle,
17) P. Riche,
in: Settimane di studio del centro italiano di studi sull'alto medioevo V
S. 873?888, bes. S. 878f. u. 885, gegen H. Pirenne, De l'?tat
(Spoleto 1958),
de l'instruction des la?ques ? l'?poque m?rovingienne, in :Rev. B?n?d. XLVI
(1934), S. 164?177.
bei den Anf?ngen des Feudalismus u. die ,,Gefange
18) F. Graus, Die Gewalt
der merowingischen Hagiographie, in: Jb. f.Wirtschaftsgesch.
nenbefreiung"
I (1961), S. 61?156, bes. S. 86.
abbatis Grandivallensis SSRM V, S. 25?40, bes. c. 1, S. 33:
19) V. Germani
sanctus Germanus abba et martyr, sacerdos Dei, natale solo Trevirorum
Igitur
civium urbis incola fuit, ex genere senatorum prosapie genitus, sed nobilior
sanctitate. Pater eius Optardus ; fratres vero eius Opthomarus et Numerianus.
sub Dagoberto rege quondam aulae regiae elegantiae et mun
Opthomarus
danae scientiae inbutus, sub rege Sigeberto, idemque quondam, fultus Deo,
ceteris sublimior fuit. Die Ausf?hrlichkeit, mit der die politische
proceribus
7. 534 Friedrich Prinz
Granfelden20), eine Tatsache, die wir vergeblich in der vormero
wingischen Hagiographie suchen werden.
Ferner f?llt gegen?ber der vormerowingischen Hagiographie
auf, da? die politische Wirksamkeit eines Heiligen keineswegs mit
seinem Eintritt in das geistliche Leben abbricht, sondern geistliche
und weltliche Aufgaben, auch auf h?chster politischer Ebene, sind
weiterhin eng miteinander verflochten und beide gleicherweise in
der Vita lobend herausgestellt. Man nehme die Vita des letzten
gesamtmerowingischen Politikers, des Bischofs Audoenus von
Rouen21), oder die von demselben Audoen verfa?te Vita seines
Freundes Eligius von Noyon, des Finanzministers Dagoberts I.
Ebenso sehen wir die enge Verquickung politischer und religi?ser
Wirksamkeit in der Vita Arnulfs von Metz oder gar in der Passio
Leodegars von Autun, die die negative Seite der Verquickung
merowingischer Kirchenf?rsten in die Politik drastisch zum Be
wu?tsein bringt22).
Hier mu? ein naheliegender Einwand zur Sprache gebracht
Stellung der Familie berichtet wird, zeigt, da? in der Auffassung des Hagio
graphen aus dem 7. Jh. die adelige Welt keinen Gegensatz zur Welt des
Heiligen darstellt, sondern eher als die selbstverst?ndliche Grundlage gilt,
die das Heilige und den Heiligen selbst hervorbringt. Jenes der Kennzeich
nung der adeligen Herkunft des M?rtyrers Germanus angeh?ngte ,,fide
nobilior" wirkt dagegen als ein blasser, angeh?ngter hagiographischer Topos.
Da Germanus als Trierer vermutlich Romane war, gewinnt die Betonung
des guten Verh?ltnisses der Familie zum K?nigshof noch eine andere Be
deutung, war doch der K?nigsdienst ein direkter Weg f?r die romanische
ehemalige Senatorenschicht Galliens, innerhalb der neuen, fr?nkischen
Herrschaftspyramide wieder politisch aufzusteigen. (Vgl. auch etwa die
Laufbahn des merowingischen Finanz ministers ? Verwiesen
Parthenius.)
sei ferner auf die ,,gesellschaftliche Selbsteinstufung" des Abtes Widerad
von Flavigny: ? Du
Pardessus II, Nr. 514, S. 323?327. H. L. Bordier,
Recueil des chartes m?rovingiennes, Paris . . . ego Wideradus
(1850), S. 23ff.
abbas, filius viri inlustri Corbonis . . .Widerad errichtete das Kloster auf
seiner res propria.
20) V. Desiderii SSRM IV, S. 547ff., bes. c. 2 ... A quo (= Dagobert I.) hi
tres germani, id est Rusticus, Siagrius et Desiderius, florentissime enutriti,
summis dignitatibus praediti sunt, Rusticus ut praefati sumus, abbatiam
palatini oratorii, quod regalis frequentatur ambitio, et archidiaconatus
officium gessit. Siagrius autem Massilia gubernacula et Albiensium cometa
tum annis plurimis administra vit. Desiderius vero iunior tempore, sed non
inferior dignitate, sub ?ndoles adhuc annis tesaurarius regis effectus, valde
strenue se accinxit ... ; ?hnlich c. 4 u. c. 7 (Einr?cken der Br?der in hohe
Staats?mter).
21) Vita Audoini SS rer. Merov. V, S. 536?567.
22) Passio Leudegarii I u. II, ebd. V, S. 249?362.
8. Heiligenkult und Adelsherrschaft 535
werden, der Einwand n?mlich, da? schon in der Sp?tantike An
geh?rige der h?chsten Gesellschaftsschichten Heilige geworden und
damit in die Hagiographie eingegangen sind, etwa Ambrosius von
Mailand, einst Inhaber der Praefectura Galliarum in Trier, oder
Papst Gregor der Gro?e. Nat?rlich geh?rt es zu den auff?lligsten
Fakten gerade der Sp?tantike, da? eine gro?e Zahl Angeh?riger der
senatorischen Aristokratie wie der Oberschichten insgesamt aus den
verschiedensten Gr?nden aus der hei?gelaufenen Maschinerie der
stockenden, nachdiokletianischen Zentralverwaltung ausspringt,
sich dem geistlichen Leben in der radikalen Form des M?nchtums
?
zuwendet oder nach dem Zusammenbruch des zentralistischen
? im Bischofsamt ihrer Civitates
r?mischen Verwaltungs?berbaus
neue Wege ?ffentlicher Wirksamkeit findet23). Beide M?glich
keiten kombinieren sich in der gro?en, s?dgallischen M?nchsschule
von L?rins, wo M?nner der teilweise depossedierten, gallischen
Aristokratie eine streng asketische Schulung erhielten und dann be
deutende Bischofssitze in Gallien einnahmen24). Ein anderes Bei
spiel ist f?r die? Donaulande der hl. Severin, der ? wie seine Vita
erkennen l??t ebenfalls der politischen F?hrungsschicht Ita
liens und, nach einer monastischen Schulung in
entstammte25)
orientalischen Kl?stern, in Noricum beim Zusammenbruch der
staatlichen Verwaltung ein gro?es wie auch reli
politisch-soziales
gi?ses Hilfswerk Der entscheidende
aufbaute. Unterschied zur
merowingischen Hagiographie besteht jedoch gerade darin, da?
Severin bzw. sein Biograph Eugippius die Frage der aristokratischen
Herkunft bewu?t als iactantia utpote sinistra ausklammern und da
mit einen Trennungsstrich zwischen ihrer fr?heren hohen Stellung
in der Welt und ihrer Wirksamkeit als Asketen ziehen. Das gilt
auch f?r die hagiographischen Berichte ?ber die gallischen Aristo
kraten in L?rins, deren vornehme Herkunft entweder kurz erw?hnt
23) Hierzu die f?r die gallischen Verh?ltnisse grundlegende Prosopographie
von K. F. Stroheker, Der senatorische Adel im sp?tantiken Gallien, T?bingen
1948.
24) F. Prinz, Fr?hes M?nchtum, S. 47 ff.
Herkunft aus
dem Brief des Eugippius an
23) Severins aristokratische folgt
?
Paschasius, Vita Severini (ed. Th. Mommsen) I, 9, S. 4: ,,. . .quid prodest"
?
sagt hier Severin zu einem Neugierigen, ihn nach seiner Herkunft
der fragt
,,servo dei significatio loci vel generis sui, cum potius id tacendo facilius,
evitare iactantiam ?" Diese Stelle ist nur dann sinnvoll, wenn Severi
possit
nus aus christlicher Demut seine vornehme Abkunft nicht preisgeben will.
Ironisch f?gt Severinus hinzu, wenn der Frager glaube, er sei ein entlaufener
Sklave, so solle er nur das L?segeld f?r ihn bereithalten. Auch die Charakte
ristik des Heiligen durch Eugippius als ?homo omnino latinus" spricht f?r
seine hohe soziale Herkunft.
9. 536 Friedrich Prinz
wird, wie bei Honoratus, Eucherius, Faustus, Caprasius, Lupus,
oder ebenfalls als unwesentlich ausdr?cklich ausgeklammert wird,
wie bei Hilarius von Aries26). Am ehesten n?hert sich noch die
wertvolle Vita des Germanus von Auxerre dem merowingischen
politisch-aristokratischen Vitentyp an, da in ihr relativ ausf?hr
lich der weltliche Werdegang des Heiligen geschildert wird27).
Wie kommt es aber, da? dem merowingischen Hagiographen
die enge Verquickung der asketischen mit der politischen Wirksam
keit seines adeligen Helden so stark ins Auge f?llt, da? er ihr einer
weit ?ber die Vorbilder der bisherigen Legendenliteratur hinaus
zu jenem Punkt,
gehenden Platz einr?umt? Damit kommen wir
von dem aus man die Einzelbeobachtungen ?ber die Art merowingi
scher Heiligenleben sowohl typologisch ordnen wie auch erkl?ren
kann, warum diese Hagiographie nicht nur materiell, d. h. durch
die ?berlieferung von Einzelz?gen, ein Spiegel der fr?hmittelalter
lichen Adelsgesellschaft, sondern auch funktionell, d. h. in ihrer
Absicht, ein Spiegel, eine Selbstdarstellung dieses Adels ist.
Schon institutionell, von Art und Ort ihrer Entstehung her,
mu? die merowingische Hagiographie dem Adel eine gro?e und.
positive Rolle in ihren Darstellungen einr?umen, denn die MehrJ
zahl aller Viten entstand ja in Kl?stern, die dem K?nigtum und
seinen f?hrenden Adelskreisen ihre Entstehung verdanken. Den
Blick auf den Heiligen schlo? den Blick auf die adelige Gr?ndern
sippe mit ein, der der Heilige dazu noch vielfach selbst entstammte
und auf deren Heil das Heiligengrab von selbst zur?ckwirken
mu?te. Die Frage, ob es die adeligen Familien der Merowingerzeilj
n?tig hatten, durch eine Klostergr?ndung aus ihrem Besitz ihre
eigene Position zu festigen, bringt uns an die Beantwortung der
oben gestellten Frage, ob und in welcher Weise die Hagiographie
dieser Epoche eine Spiegelung bzw. Selbstspiegelung ihres Adels sei.
Durch den ?bertritt zum Christentum verlor der germanische!
Adel zwangsl?ufig ein Gutteil seines zuvor in der heidnischen Reli^
gion begr?ndeten charismatischen F?hrungsanspruches, der sich
bedient sich des Kunstmittels, verbis auf die
26) Der Biograph expressis
Heimat und Eltern lobend zu erw?hnen, zu verzichten, denn
Gepflogenheit,
so habe es Hilarius selbst in seiner Lobrede auf Honoratus getan. Er wolle
aus der F?lle der Tugenden seines Heiligen einige (n?mlich die weltlichen!)
auslassen, ,,ut vitae ipsius pretiosissimum moni le, non humanis gemmis
ornatum, sed supernis virtutibus splendidum, sine artificis manu, pretiositate
propria commendetur". Vita Hilarii c. 2 (ed. S. Cavallin, Lund 1952), S. 81 f.
27) Vita Germani episc. Autissiodorensis, SS rer. Merov. VII, S. 225?283,
bes. c. 1, S. 251; vgl. W. Levison NA. XXIX, 1903, S. 97?175; E. Griffe,
La Gaule chr?tienne II, S. 231 ff.
10. Heiligenkult und Adelsherrschaft 537
aus der Abstammung einer Adelssippe von einem g?ttlichen Spit
^enahn herleitete28). Die kultisch-geistige wie auch politische Vor
des Adels war mit der Bekehrung grunds?tzlich er
rangstellung
sch?ttert. (In Parenthese sei hier die Frage eingef?gt, ob nicht
diese grundst?rzende Ersch?tterung der Stellung des Adels durch
den Verlust seiner heidnisch-sakralen Sanktionierung auch einer
der Gr?nde war, die es r?cksichtslosen Machtmenschen wie Chlod
wig erm?glichte, sich relativ leicht seiner uradeligen Herrschafts
konkurrenten innerhalb des Frankenbundes zu und da
entledigen
mit zur Alleinherrschaft zu gelangen ?)Wie dem auch sei, die mero
wingische Hagiographie vermittelt uns Einblick in drei typische
Reaktionsweisen, durch die der fr?nkische Adel seiner charisma
tischen Entwurzelung durch das Christentum sch?pferisch zu be
gegnen suchte:
? 1. Die merowingische Hagiographie setzt neben die alten, aus
dem Orient oder aus dem sp?tantiken Gallien tradierten Heiligen
Jo?te neue, ?zeitgen?ssische" Heilige aus den Reihen der sich im
J7.Jh. bildenden, reichsfr?nkischen Oberschicht. Angeregt wurde
(diese Entwicklung durch den au?ergew?hnlichen Widerhall, den
Columban und sein Kloster Luxeuil unter dem fr?nkischen Hof
adel unter Chlothar II., Dagobert I. und Chlodwig II. gefunden
hatte29). So entstanden Viten wie die Audoens von Rouen, Eligius'
yon Noyon, Wandregisels von Fontanella, Filiberts von Jumi?ges,
Arnulfs von Metz, Gertruds von Nivelles, von Autun,
Leodegars
Desiderius' von Cahors. Luxeuil und P?ronne w?ren genauso
'ephemer in ihrer Wirkung geblieben wie viele andere Irenkl?ster
auf dem Kontinent, wenn sie nicht die lebenswichtige Verbindung
zum merowingischen K?nigtum und zum Kreis merowingischer
H. Dannenbauer, u. Herrschaft
?8) Zum Problem: Adel, Burg bei d. Ger
manen, in: H Jb. 61 (1941), Neudruck in: Wege d. Forschung II, Herrschaft
u. Staat im MA., 1956, S. 60?134, bes. S. 74; K. Hauck, Haus- u. sippen
gebundene Lit. ma. Adelsgeschlechter, in: MI?G 62 (1954), S. 121?145,
Neudruck in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im MA. (Wege d. For
schung, Bd. XXI), Darmstadt 1961, S. 165?199, bes. S. 183ff.; vgl. auch
ders., Carmina antiqua, Abstammungsglaube u. Stammesbewu?tsein, in:
ZBLG 27 (1964), S. 1?33 (= Festschrift K. A. v. M?ller).
29) Vitae Columbani I, c. 10 SS rer. Merov. IV, S. 76: ?... Ibi (= in Luxeuil)
nobilium liberi undique concurrere nitebantur, ut exspreta faleramenta sae
culi et praesentium pompam facultatem temnentes aeterna praemia cape
rent." Einen ?hnlichen Geist versp?rt man in der Inschrift des Grabsteins
eines ,,vir venerabiles Ludubertus de nobile genere", der im 7./8. Jh. sein Gut
der Trierer Domkirche schenkt und selbst Geistlicher wurde. Karl der Gro?e,
Werk und Wirkung, Aachen 1965 (10. Ausstellung des Europarates), Kata
log Nr. 234, S. 139, Grabstein aus St. Matthias, Trier.
11. 538 Friedrich Prinz
Adeliger und Reichsbisch?fe gefunden h?tten, die wir in der schohk
palatii Chlothars II. und Dagoberts I. vereinigt finden und in dem
Freundeskreis fassen k?nnen, der uns in der erw?hnten Briefsamm^
lung des Bischofs Desiderius von Cahors begegnet30). F?r die Wir
kung von Luxeuil unter der fr?nkischen Oberschicht mu? aber auch
in Rechnung gestellt werden, da? sich der religi?s entwurzelt 5
? das Christentum keine un
Merowingeradel gibt bekanntlich
mittelbare, ideelle St?tze zur Sanktionierung einer Adelsherrschaft
? durch das Heraustreten und die hagiographische Ausformung
neuer Heiliger aus seinen eigenen Reihen, gewisserma?en auf einem
Umweg, n?mlich ?ber heiligm??ige Familienangeh?rige, eine neue
religi?se Selbstrechtfertigung und eine neue, diesmal christliche
Verankerung seiner F?hrungsposition erringt. Es versteht sich von
'
selbst, da? dies kein ideologisch ,,gezielter' Proze? war, sondern ein
unbewu?ter und deshalb um so wirksamerer Akt geistiger Selbst
etablierung, womit sich bedeutende Adelsfamilien des Merowinger
reiches, wie die Burgundofaronen, die Waldebertsippe, die Arnul
finger und die Pippiniden geistig innerhalb des neuen christlichen
Weltbildes verankerten und mit den Heiligen aus ihren Reihen
neue Garanten f?r das geheiligte Vorrecht ihrer seit jeher bestehen
den Herrschaft schufen. Der seit dem 7. Jh. vollzogenen, christ
lichen Begr?ndung der Adelsherrschaft folgt die ?bertragung dels
Herrschaftsdenkens in die transzendente Sph?re, d.h. ein typischer
geistiger Inhalt des Adelsdenkens formt christliche Grundvorstel
lungen um und ver?ndert die hagiographischen Schemata im ade
ligen Sinne31).
An diesem Punkte w?re grunds?tzlich die Frage zu stellen, ob
nicht die Christianisierung des 7./8. und wohl auch des 9. Jh.s im
wesentlichen eine ausgesprochene Oberschichtenreligion gewesen
sei und die ?Tiefenchristianisierung'' mit ihrer Massenwirkungj,
zumindest n?rdlich der Alpen, erst mit den kirchlichen
Reformj
bestrebungen einsetzte, die dem Investiturstreit vorausgingen. Zu
dieser Auffassung w?rde sehr gut passen, da? Hugeburg, die Nonne
von Heidenheim, in der Vita ihres Verwandten Willibald von Eichr
statt denselben als pius procerum pontifex bezeichnet32), als einen
frommen Bischof der proceres, d. h. der das Land beherrschenden
Grundherren und Adeligen ;womit die Herrschaft des Adels in der
und ?ber die Kirche einen sehr pr?gnanten Ausdruck gefunden hat.
30) Siehe oben, Anm. 16.
31) F. Graus, Herrscher und Heilige, 364 f. betont mit Recht, da? die mero
wingische Hagiographie im Gegensatz zu den voraufgegangenen Mustern den
Adelsheiligen herausstellt.
82) Vita Willibaldi prol. MGSS XV, S. 86.
12. Heiligenkult und Adelsherrschaft 539
Betrachtet man unter diesen Aspekten die rnerowingischen
I leiligenleben des entscheidenden 7. Jh.s, dann ist unsere oben er
v f?hnte Beobachtung kein Zufall, da? diese Viten ? im Gegensatz
?
zur vormerowingischen Hagiographie der weltlichen Wirksam
keit und den famili?ren Verbindungen ihrer adeligen Heiligen ein
relativ gro?es Gewicht beilegen, das aus den ?berkommenen Topoi
c.er Hagiographie nicht abzuleiten ist und noch weniger aus der
III. Schrift. Der merowingische, adelige Heilige ist eben immer noch
Mitglied und Repr?sentant seiner Familie und seiner Gesellschafts
schicht, seine Heiligkeit strahlt notwendigerweise auf seine Familie
und auf deren politisches Prestige zur?ck, mit ihm gewinnt die
Familie und der Adel als Herrschaftsform jene kultisch-religi?se
Sanktionierung zur?ck, die er innerhalb des Gef?ges der heidni
schen Religion besessen hatte und die mit dem ?bertritt zum
Christentum grunds?tzlich bedroht war. Damit erweist sich aber
die enge Verkn?pfung des rnerowingischen Heiligen mit seiner
Familie, mit dem K?nigtum und den ? positiv gew?rdigten
?
Formen der Adelsherrschaft als ein neues, n?mlich germanisches
Element in der Hagiographie33). Es ist in diesem Falle nicht nur
formal ein germanisches Element, sondern auch funktional, n?m
'
lich im Sinne des Toynbeeschen Begriffspaars von ?challenge' und
,,response" eine sch?pferische Antwort des Adels auf die grund
s?tzliche Herausforderung und Bedrohung, die das Christentum
f?r die kultisch-religi?se Begr?ndung der Adelsherrschaft heid
nischer Herkunft bedeuten mu?te. Der Heilige aus den Reihen des
?
neuen rnerowingischen Reichsadels ganz ob er sich eth
gleich,
nisch aus fr?nkischem Stammes- und Dienstadel oder aus dem in
der Reichsverwraltung arrivierenden, gallor?mischen Adel senato
rischer Herkunft rekrutierte ? dieser Heilige gab der neuen F?h
rungsschicht, weil sie seine eigene gesellschaftliche Heimat war, ein
sowohl kultisch-religi?ses wie auch gleichzeitig politisch-herrschaft
liches Prestige. Hier fassen wir die Wurzel dessen, was Friedrich
Heer die ?politische Religiosit?t" des Mittelalters genannt hat ;es ist
eine wesentliche Komponente des Mittelalters ?berhaupt gewor
den.. Konkret gesprochen : es war f?r den
beispielsweise politischen
Aufstieg der Karolinger sicher nicht bedeutungslos, da? diese m?ch
tige Gro?familie schon zwei Heilige ? Arnulf und Gertrud ? in
ihren Reihen z?hlte, deren Kult bereits Anfang des 8. Jh.s zumin
dest offizi?s war, d.h., er war ?ber den engeren Bereich karolingi
scher Sippenkl?ster l?ngst hinausgedrungen und hatte gesamt
? ?
*3) K. Bosl, Die
germanische Kontinuit?t im deutschen MA. (Adel K?nig
Kirche), in: K. B., Fr?hformen der Gesellschaft im ma. Europa, M?nchen
Wien 1964, S. 80?105, bes. S. 88 ff.
13. 540 Friedrich Prinz
fr?nkische Geltung erlangt, wie sich an den merowingisch-fr?ri
karolingischen Viten Arnulfs von Metz, Gertruds von
Nivelles34]),
an Psalterien und Kaiendarien nachweisen l??t35). Damit hattfe
diese Familie eine kultisch-religi?se Legitimation erlangt, die sehr
wohl dem merowingischen K?nigsheil entgegengesetzt werdefa
konnte und die gleichzeitig die religi?se Grundlage f?r die p?pst
liche Hilfe abgab. Umgekehrt begreift man, welch schwere, mittel
bare Bedrohung Arbeos von Freising Viten des hl. Emmeram und
Corbinian f?r die agilulfingische Herrschaft bedeuten mu?ten, da
die ausf?hrliche Beschreibung des ?blen Schicksals, das zwii
agilulfingische Herz?ge jeweils diesen Heiligen bereiteten, ein un
verkennbarer Affront gegen die politische Herrschaft der Agilul
finger und zugleich ein Angriff auf die religi?se Sanktionierung d?r
Agilulfingerherrschaft ?berhaupt war36). !
Typologisch ist schlie?lich noch bemerkenswert, da? die
durchwegs positive Wertung der adeligen Herkunft und der welt
lichen Wirksamkeit eines merowingischen Heiligen der erste Schritt
und eine wesentliche Vorbereitung einer religi?s durchformten
?adeligen Standesethik" von Seiten der Kirche war, einer Standes
ethik, die dann, wie Heinz L?we an Regino von Pr?m gezeigt hat,
Schritt f?r Schritt weiterentwickelt wurde37). Ohne den Adels
heiligen der Merowingerzeit ist die Ethisierung des Adeligen im
Hochmittelalter undenkbar. Der staufische Ritter, f?r den gotes
hulde, ?r und varnde guot vereinbare sittliche und gesellschaftliche
Werte sind, ist undenkbar ohne die in der Merowingerzeit voll
zogene christliche Sanktionierung des Adels durch die Heiligen aus
?
seinen Reihen.
Wir haben als erste der drei typischen Reaktionsweisen, durch
34) Vita Arnulfi SS rer. Merov. II, S. 426?446; Vita Geretrudis, ebd., S. 447
bis 474, nebst dem um 655 verfa?ten Additamentum Uivialense zur Vita
Fursei, SS rer. Merov. IV, S. 449?451. Die politische Wirksamkeit Arnulfs
tritt in seiner Vita durchaus nicht so stark hinter dem rein h agiographischen
Aspekt zur?ck, wie W. Levison meinte (Wattenbach-Levison, Geschichts
quellen I, S. 126.
35) Eine vor 800 in einem angels?chsisch beeinflu?ten Kloster zwischen Maas
und Rhein entstandenes Psalterium bezeugt den Kult Arnulfs und Gertruds
und bringt Gebete f?r Karl den Gro?en und seine Kinder, f?r das fr?nkische
Heer und Papst Leo III. = Paris, Bibl. nat. lat. 131159 = CLA V, Nr. 652 foL
1645?165v; vgl. F. Prinz, Zur geistigen Kultur, S. 89f.
36) F. Prinz, Zur geistigen Kultur, 86 ff. ;ders., Die Herrschaftsstruktur Bayerns
und Alemanniens im 8. Jh., Bll. f. dt. Landesgesch. 102 (1966) S. 11?27.
37) H. L?we, Regino von Pr?m und das historische Weltbild der Karolinger
zeit, in: Rh. Vjbll. 17 (1952), S. 151?179, Neudruck, in: Geschichtsdenke?
und Geschichtsbild im MA., h. c. S. 91?134, bes. S. 100ff.
14. Heiligenkult und Adelsherrschaft 541
_j
die der fr?nkische Adel seiner kultischen Entwurzelung durch das
Christentum sch?pferisch in der Hagiographie begegnete, die M?g
lichkeit behandelt, den Heiligen aus den eigenen Reihen als Typus
und Gegenstand kultischer Verehrung zu entwickeln. Es liegt auf
Hand, da? diese M?glichkeit nicht immer gegeben war, denn :
djer
? viele pers?nliche M?ngel auch gerade den rnerowingischen Heili
n anhaften m?gen, ein gewisses, unerl??liches Ma? menschlicher
*??e und religi?ser Ergriffenheit mu?te in jedem Fall vorhanden
sein, um daraus hagiographisch einen adeligen Heiligen entwickeln
zu k?nnen. Wo diese fehlte, mu?te ein zweiter
Grundvoraussetzung
Weg beschriften werden, um eine neue, christliche Sanktionierung
des zu erreichen.
adeligen F?hrungsanspruches
Dieser Weg bestand darin, da? der Adel seine Eigenkl?ster, die
von ihm selbst geleitet wurden, mit wirkkr?ftigen Reliquien aus
stattete und auf diese Weise seine vielfach erst zu diesem Zweck
Kl?ster zu Kultzentren^
gegr?ndeten find St?tten des allgemeinen
Heils machte, eines Heils, das verm?ge seiner Wirkung im Volke
S3wie der Propagierung durch Tra?slationsbericht und Heiligen
vita wiederum st?rkend und best?tigend auf das politische An
sehen der Sippe der Kl?sterstifter und -herr?n zur?ckstrahlte. Es
1 .?ndert sich dabei ebenfalls um einen Akt der Selbstheiligung der
adeligen Gr?nderfamilien. Von diesem Aspekt her versteht man
r un auch besser die weitreichende Bedeutung der Wunderberichte
von Heiligengr?bern, die nicht nur einer leichthin postulierten
'
Wundersucht
,; des Mittelalters* entspringen, sondern zugleich mit
c em Ruhm des Heiligen den der Stifter verk?nden, wodurch der
I leilige erst im eigentlichen Sirpe ?Hausheiliger" einer Familie und
S ippe und sein Patrozinium zugleich ein herrschaftlich-politisches
Faktum wird. Vielleicht fassen wir hier eine der tiefsten Wurzeln
und Impulse f?r die Flut adeliger Klostergr?ndungen des 7. und
RJh.s: n?mlich das aus einem gef?hlten inneren Mangel ? als
I rolge des heidnisch-religi?sen Autorit?tsschwundes ? entstandene
1 sidenschaftliche Bestreben des nach innerer Konsolidierung suchen
den fr?nkischen Reichsadels, sein altes, durch die Konversion er
sch?ttertes heidnisches F?hrungscharisma durch eine kultisch
4 ;hristliche Neubegr?ndung seiner Stellung zu befestigen, bzw.,
^venn es sich um Dienstadel der Mero im Sinne A.
winger Bergen
i^ruens handelt38), ?berhaupt erst dieses F?hrungscharisma zu
A. Bergengruen, Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich. Sied
ap
und standesgeschichtliche Studie zu den Anf?ngen des fr?nkischen
lpings-
^.dels
in Nordfrankreich und Belgien (1958) ; vgl. aber dagegen K. F. Werner,
Bedeutende Adelsfamilien im Reiche Karls d. Gr., in: H. Beumann (Hrsg.),
JCarl d. Gr., Lebenswerk u. Nachleben (1965), S. 83?142, der mit guten
15. 542 Friedrich Prinz
schaffen. Dies war, wie oben gezeigt, durch die neuen Heiligen aus
den eigenen Reihen m?glich, ebenso durch Reliquientranslatione|n
in die adeligen Eigenkl?ster und schlie?lich auch durch die zahl
reichen Klostereintritte fr?nkischer potentes und nobiles in die
irofr?nkischen Monasteria vom Luxeuiltyp, wie sie uns seit Jona|s
von Bobbio immer wieder bezeugt sind.
In diesem Sinne einer kultisch-religi?sen Neu Verankerung des
Adels sind auch beispielsweise die r?mischen und reichsfr?nki
sehen Reliquien?bertragungen des westbayerischen Adels neben
ihrem religi?sen Zweck zugleich als Mittel zur Festigung seiner
Herrschaft zu verstehen, und seine Benediktbeuerrt,
Eigenkl?ster
Kochel, Scharnitz-Schlehdorf, Tegernsee, Schliersee, Ilmm?nster
und Schaftlarn damit in einem viel umfassenderen Sinne, als bishe r
angenommen, ?politisch-herrschaftliche St?tzpunkte". Dieser, sich
um die Huosi gruppierende, westbayerische Adel sanktionierte da ,
? was
mit seine eigene, herrschaftlich-religi?se Position und als
Besonderheit der politischen Verh?ltnisse Westbayerns noch hin
zukommt ? gleichzeitig seine relative Eigenst?ndigkeit gegen?be r
den Agilulfingern, in deren Kl?stern ganz andere Heilige verehrt
wurden39).
Die dritte M?glichkeit des Adels, den Schwund kultisch-herr
schaftlicher Autorit?t, der mit dem ?bergang zum Christentur n
eintreten mu?te, wieder wettzumachen, bestand in der gro?z?gige; i
F?rderung alter Kultzentren durch die neue fr?nkische F?hrung? -
Schicht, eine M?glichkeit, deren sich verm?ge ihrer reichen fiskali -
sehen Mittel vor allem die Merowinger selbst bedienten, etwa im Fall e
von St. Martin in Tours, St. Germain in Auxerre, in St. Denis un< I
anderswo40). Beh?lt man diese innere Notwendigkeit im Auge, die
-
das merowingische K?nigtum wie seinen Adel zwang, seine Herr
schaft nach der Konversion zum Christentum kultisch neu zu legi -
so man -
timieren, gewinnt auch ein besseres Verst?ndnis des Aache
ner Leistungsverzeichnisses der Reichskl?ster von 815, wonach di e
dritte, darin erw?hnte Gruppe von Kl?stern Gebete als servitia f? r
den Herrscher zu leisten hatte41). Diese Gebete, die uns schon au^
der Zeit Karls des Gro?en ?berliefert sind und, wie z. B. der Code: c
Parisinus lat. 13 159 zeigt42), dem K?nig, seinen Nachkommei^
Gr?nden das Weiterleben fr?nkischen Uradels neben und nach den Mero_
wingern erweist.
39) F. Prinz, Die Herrschaftsstruktur Bayerns und Alemanniens im 8. Jh.,
a.a.O. S. 17ff.
*?) F, Prinz, Fr?hes M?nchtum, S. 152 ff.
41) MG. Capitul. I, S. 350 f.
j
*2) Siehe oben, Anm. 35.
16. Heiligenkult und Adelsherrschaft 543
und dem fr?nkischen Heer Leben, Sieg und Gesundheit erflehen,
sind Teil jener neuen, nun christlichen Heiligung von K?nig und
Adel, der wir in ihren drei Hauptformen nachgegangen sind.
Wenn es stimmt, da? die merowingische Hagiographie in ganz
spezifischer Weise die religi?se Verankerung der fr?hmittelalter
lichen Adelsgesellschaft innerhalb einer sich langsam verchrist
lichenden Welt widerspiegelt, dann mu? auch das Bild des rnero
wingischen Heiligen in besonders pr?gnanter Form Z?ge adeliger
Lebensweise in sich aufgenommen haben. Wie anfangs erw?hnt,
hat bereits Katharina Weber auf diese Z?ge eindringlich hinge
wiesen. F?r die Viten aus der Feder des westbayerischen Aristo
kraten Arbeo hat dies in ?berzeugender Weise Heinz L?we getan,
wobei es wegen des relativ geringen Zeitabstandes zwischen den
Heiligen Corbinian und Emmeram und ihrem Biographen letztlich
unwesentlich ist, ob diese adeligen Charakteristika mehr auf das
Konto Arbeos oder Corbinians und Emmerams zu setzen sind43).
Corbinians kennerhafte Vorliebe f?r Pferde, seine Freude an
Schmuck und Prunk ? man denke hierbei an den Schmuckreich
tum gerade der westbayerischen Adelsgr?ber, den Frauke Stein
zusammenfassend dargestellt hat44) ?, die unbek?mmerte Art des
Anordnens und Herrschens ?ber seine Hausgenossen, das in Arbeos
Darstellung durchschimmernde Vergn?gen an k?rperlicher Leistung
und Wohlgeratenheit, die wohl zu unterscheiden ist von den
tibernat?rlichen Wunderkr?ften eines Heiligen, schlie?lich die
l Fngeniertheit, mit der der Heilige widersetzliche Personen schlicht
v erpr?geln l??t oder eigenh?ndig z?chtigt45) :dies alles sind Z?ge,
die aus dem traditionellen Arsenal hagiographischer Topoi des
C Orients allzu deutlich herausfallen, als da? man sie ?bersehen
d?rfte. All diese Einzelmomente finden sich auch in der reichs
fr?nkischen Hagiographie zwischen Rhein und Loire, nur da?
d ort, entsprechend der N?he des Adels zum K?nigshof und seiner
ma?gebenden Stellung an demselben, die politische Bedeutung
d es einzelnen Adelsheiligen noch st?rker in den Vordergrund
* S. Ill ff. F?r den Frauentyp der Hagiographie
l) H.L?we, Arbeo, vgl.
? [aria St?ckle, Studien ?ber Ideale in Frauenviten des VII.?X. Jh.s, Phil.
I >iss. M?nchen 1957, bes. S. 20ff. u. S. 24ff., wichtig daselbst die Feststellung,
d a? vom 7. bis zum 11. Jh., also bis zum Investiturstreit, die M?glichkeit der
i< lealen sanctitas ohne nobilitas ausgeschlossen bleibt. Darin kommt die
'eraristokratisierung des Heiligentyps oder die Heiligung des Adels deutlich
z um Ausdruck.
4
*) Frauke Stein, Adelsgr?ber des 8. Jh.s im rechtsrheinischen Deutschland,
I ?h?. Diss. (Masch.-Schrift), M?nchen 1961.
* S. 111 ff.
*) H. L?we, Arbeo,
17. 544 Friedrich Prinz
ger?ckt wird als bei Arbeo. So weist die Vita Audoini auf die gro?e
Rolle des Heiligen bei den letzten K?lner Ausgleichsverhandlungen
zwischen Austrasien und Neustrien im Jahre 680 hin46), die Passio
Leodegars von Autun berichtet detailliert die politische Partei
nahme des Bischofs im jeweiligen Kampf f?r oder gegen den
neustrischen Hausmeier Ebroin47), w?hrend die Vita Arnulfs von
Metz deutlich dessen Rolle erkennen l??t, die er bei der G?ngelung
des austrasischen Unterk?nigtums durch den austrasischen Adel
aufgrund des Edictum Chlothari von 614 spielte48). Die Vita
Filiberts von uns, wenn auch in vorsichtig ver
Jumi?ges zeigt
h?llender Form, Audoen als Parteig?nger des Hausmeiers Ebroin,
in welcher Eigenschaft er mit Filibert in Konflikt geriet49). Die
Reihe der Einzelbeobachtungen lie?e sich nach Belieben fortsetzen
und etwa mit Karl Haucks Gesichtspunkt noch weiter durch
forschen, inwiefern beispielsweise auch in der Hagiographie de?
von einer Literatur zu w?re.
7./8. Jh.s sippengebundenen sprechen
Man denke etwa daran, da? Jonas von Bobbio bereits die Kloster
gr?ndungsgeschichten der Burgundofaronensippe in der Ile de
in der -
France und Normandie innerhalb des famili?ren Zusammen
hanges behandelt. Da? sippengebundene Elemente auch in de?
Hagiographie enthalten sind, erhellt ferner aus den Virtutes s.
Geretrudis, denen zufolge die hl. Gertrud ihrer Verwandten, der
?btissin Modesta des Trierer Klosters Oeren, an ihrem Sterbetag
erschien. Hierher geh?rt schlie?lich auch die Tatsache ? um ein
bereits erw?hntes Beispiel zu nehmen ?, da? die Nonne Hugebur^ *
von Heidenheim die Viten ihrer Verwandten Willibald und Wuni -
bald schrieb und da? schlie?lich die Metzer Bistumsgeschichte de: 3
Paulus Diaconus bewu?t als karolingische Familiengeschichte
konzipiert wurde50).
46) Vita Audoini c. 2, 3 u. 16 SS rer. Merov. V, S. 536ff. ? E. Vacandard, Vi< ?
de saint de Rouen 641?684 S. 263 ff. u. 296 .
Ouen, ?v?que (Paris 1902), bes.
47) Passio ep. Augustodun. I u. II, SS rer. Merov. . V, S. 249?362
Leudegarii
48) Vita Arnulfi ep. Mett., SS rer. Merov. II, S. 426?446, bes. c. 1, 3?7,
; 11
16, 17.
49) Vita Filiberti, SS rer. Merov. V, S. 568?606.
50) Virtutes s. Gertrudis c. 2, SS rer. Merov. V, S. 465; s. oben, Anm. 32fl
Hugeburg; Paulus Diaconus, Gesta episcoporum Mettensium MG SS III
S. 260?270; dazu K. Hauck, in: Liber Floridus = Festi
Gebl?tsheiligkeit,
schrift Paul Lehmann, St. Ottilien 1950, S. 187?240, bes. S. 193.